Mustergesellschaft?

Warum der „erste Eindruck“ nichts zählt

Kennt ihr das? Diese ersten Sekunden, wenn ein Mensch euch sieht? Mir sind jene Momente immer besonders unangenehm. Laut Wissenschaftlern sind das die Sekunden, die darüber entscheiden, ob man den Gegenüber symphatisch findet. Man wird mit den Augen von oben bis unten „gemustert“. Romanautoren und andere Literaten meinen mit diesem Ausdruck meistens den Blick über den ganzen Körper, von den Haarspitzen bis zu den Schuhen. Er ist in diesem Zusammenhang zu einer richtigen Floskel geworden. Ich aber vermeide ihn, seit mir bewusst geworden ist, was er wörtlich genau bedeutet: Das Wort „mustern“ stammt vor allem aus dem Militärbereich, dort wird es verwendet, um Menschen auf Wehrdiensttauglichkeit (zu diesem Thema äußere ich mich ausführlich in der kommenden Ausgabe der politikorange) zu untersuchen. Mit dem Verwenden dieses Begriffes suggeriert man, einen Menschen nach Kriterien zu beurteilen, jemanden in ein Muster zu rücken. Beim Militär ist das bestimmt gerechtfertigt. Beim Umgang miteinander im Alltag ist es jedoch völlig fehl am Platz.

Immer noch eine der größten Ängste heutzutage: Nicht dazuzugehören, nicht ins Muster zu passen, das Schema nicht zu erfüllen. Das Gefühl, nach dem Äußeren bewertet und in eine Schublade gesteckt zu werden, kennen die meisten. Klischees und Vorurteile sind oft Hauptauslöser für vorschnelle Bewertungen von Anderen. Oft geschieht das zwar unbewusst, der oder die Betroffene werden aber trotzdem verletzt. In einigen deutschen Großstädten beklagen Menschen mit schwarzen Haaren oder dunklerem Teint Benachteiligungen, zum Beispiel beim Einlass in Clubs: Türsteher lassen sie nicht hinein oder kontrollieren sie unnötig lange – einfach aus Ablehnung gegenüber Migranten. Dort ist ihr Äußeres ihre größte Schwäche.

Dieses bedenkliche Phänomen lässt sich in nahezu allen Bereichen unseres Alltags feststellen. Eine meiner Lehrerinnen sitzt im Rollstuhl und regte sich kürzlich darüber auf, dass Fremde oftmals nur mit ihrem aufrecht stehenden Mann sprächen, auch wenn das Gespräch sie direkt betreffe. Diese Leute machten den fatalen Fehler, aus dem körperlichen Handicap meiner Lehrerin auch ein geistiges zu schließen. Daraufhin richtete sie sich nämlich zu ihrer vollen (beträchtlichen) Körpergröße auf und sagte dem armen Menschen laut ins Gesicht, was sie von ihm halte.

Eine goldrichtige Reaktion, um bewusst zu machen, worum es dabei eigentlich geht: Auf das Äußere oder die körperliche Erscheinung reduziert zu werden, ist nicht nur diskriminierend, sondern entspricht einfach selten dem wahren Wesen eines Menschen.

„Die inneren Werte zählen“ – diesen Satz hören wir oft, wenn es um eine Vorliebe bei der Partnerwahl geht. Doch scheint es vielen schwerzufallen, sich wirklich auf diese Werte des Inneren zu konzentrieren, denn dafür muss man aus der Oberflächlichkeit der Instagram-Scheinwelten ausbrechen und einen Menschen wirklich kennenlernen, mit ihm ins Gespräch kommen, ihn herausfordern, seine Haltung erforschen. Viele werden mir zustimmen, wenn ich bemerke, dass eine WhatsApp-Nachricht manchmal sehr viel einfacher zu verschicken ist, als jemandem seine Mitteilung direkt ins Gesicht zu sagen.


Auch ich kann mich nicht davon freimachen, andere nach ihrem Äußeren vorschnell zu beurteilen. Oftmals musste ich die Erfahrung machen, dass eine Person mir sehr viel symphatischer ist, als mein erster Eindruck es mir fälschlicherweise vorgegeben hatte. Manchmal war aber auch genau das Gegenteil der Fall und ich musste feststellen, dass der Gegenüber ein richtiges Arschloch ist (Riesen-Sorry an alle unter 14 für dieses schlimme Wort) – ganz anders als zuallererst angenommen. Spätestens seit Christian Lindner wissen wir, dass schöne Menschen nicht immer nett sind.

Ab und zu kam es auch vor, dass man mich selbst aufgrund meiner Figur, meiner Kleidung oder sonstigen Merkmalen (wie meiner einfach unwiderstehlichen Ausstrahlung), die meine Freunde vermutlich besser kennen als ich, vorverurteilt hat. In diesem Moment war ich darüber nicht erbost, ich konnte einige Leute sogar verstehen. Ich habe hingenommen, wenn man mich gedanklich in eine Schublade steckte.

Im Nachhinein ärgere ich mich ungemein, sowohl über mein eigenes Verhalten gegenüber anderen, als auch über das Verhalten anderer mir gegenüber. Mich ärgert meine eigene Oberflächlichkeit, nicht vielleicht zuerst einen Blick in die Augen des Gegenübers gewagt zu haben, statt automatisiert Bewegung, Kleidung und Körper zu analysieren. Mich ärgert aber auch, meinem potentiellen Gegenüber im anderen Fall nicht klargemacht zu haben: „Hier oben spielt die Musik. Schau in meine Augen, Kleines, rede mit mir und schau dir nicht meine (absolut stylischen) Socken an, bevor du mich kennst.“

Manchmal fehlte dort der Mut, meistens auch die Ambitionen, jetzt auf Konfrontation zu gehen. Aufgrund des Äußeren unterschätzt zu werden – solche Begebenheiten können eine Steilvorlage dafür sein, sich vor genau diesen Leuten zu beweisen. Das aber ist, liebe Leser, nicht im Ansatz notwendig: Ihr allein entscheidet über euer Erscheinungsbild, euch allein muss dieses gefallen. Ja ich weiß, ich klinge wie Barbara Schöneberger, die versucht, euch davon zu überzeugen, dass ihr schön seid, wie ihr seid. Aber sie hat recht.

Ich selbst kann von mir nicht behaupten, nicht gern über andere zu lästern, dafür macht es zu großen Spaß. Solange ich das aber nur über Aussagen und Charakterzüge eines Anderen tue, ist das auch ein verdammtes Element der freien Meinungsäußerung! (Hihi.) Es geht mich nur überhaupt nichts an, wie der andere sich kleidet, „herumläuft“ oder sich schminkt. Auch wenn ich die Augenbrauen meiner Mitschülerin nicht schön finde, weiß ich trotzdem, dass sie freundlich und hilfsbereit ist – weil ich sie nicht vorverurteilt habe.

Die Beurteilung nach dem Äußeren ist eine Eigenschaft der Gestrigen, wir sind darauf nicht angewiesen, wir sind fortschrittliche Menschen, die andere nur nach Charakter beurteilen. Richtig? Der „Preis“ für eine möglichst heterogene Gesellschaft ist Akzeptanz – und zwar gegenüber Jeder und Jedem. Lasst uns auch einmal die Schlauen sein. Hey, wir sind die Leute aus 2019 und finden euch alle angemessen gekleidet, supertoll geschminkt und mögen eure Frisuren! Auch wenn andere das nicht so sehen: Für diese Erde reicht ihr aus, wie ihr seid.


Thies schreibt für den Gedächtnispalast, seit er existiert. Also, der Gedächtnispalast…


Beitragsbild: Laura aus dem Gedächtnispalast

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